Am 26. September wird das Schlieremer Stimmvolk entscheiden, ob die Stadt zur Gemeindeordnung mit Gemeindeversammlung zurückkehren soll. Auch in Bülach ist derzeit die Abschaffung des Gemeindeparlamentes ein Thema. Die Autorin des folgenden Beitrags macht Zweifel geltend, dass die Gemeindeversammlung für eine grosse Gemeinde eine angemessene Organisationsform ist.
Eine Gemeindeversammlung lässt sich nicht einfach durch ein Parlament ersetzen. Ist ein Gemeindeparlament einmal geschaffen, sieht sich das Gremium unter Umständen einem stetigen Rechtfertigungszwang ausgesetzt. Initiativen zu dessen Abschaffung, wie sie derzeit in einzelnen Gemeinden des Kantons Zürich zur Diskussion stehen, werden periodisch lanciert. Es kann indessen mit Fug bezweifelt werden, dass die Gemeindeversammlung für eine Gemeinde wie Schlieren mit ihren rund 13 000 Einwohnern und rund 6600 Stimmberechtigten die richtige Organisationsform ist.
Gemeinde als Zelle der Demokratie
Die Gemeinde wird gerne als Urzelle der Demokratie bezeichnet. In der Gemeinde sind die Verhältnisse überblickbar, weshalb die Demokratie auch unmittelbarer gelebt werden kann. Umgekehrt machen sich Entscheide der Gemeindebehörden für die Einzelnen unmittelbarer bemerkbar, was das Bedürfnis nach Teilnahme an den Entscheiden steigert. An der Gemeindeversammlung kann die Demokratie im Idealfall denn auch am besten gelebt werden. In einem direkten Meinungsaustausch unter den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern sowie mit der Gemeindeexekutive soll der Entscheid gefunden werden. Dabei sollen sich sämtliche Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer chancengleich äussern und zur Willensbildung beitragen können, ohne einer Partei zugehören und ohne die Medien beanspruchen zu müssen.
Betrachtet man die konkrete Ausgestaltung der Gemeindeversammlung im Kanton Zürich, so hat der Gesetzgeber die Verwirklichung der Demokratie sehr ernst genommen. Im Gegensatz zur Urnenabstimmung können die Stimmberechtigten an der Versammlung zu einer Vorlage Änderungsanträge stellen. Jede stimmberechtigte Person kann überdies der Gemeindeversammlung in deren Zuständigkeitsbereich selbst Geschäfte zur Beratung vorlegen. Mittels einer Anfrage können die Stimmberechtigten bei der Exekutive Auskünfte über den Gang der Verwaltung einholen.
Die Realität
Die Versammlungsdemokratie setzt allerdings unabhängige und informierte Stimmberechtigte voraus, die sich um die Staatsgeschäfte kümmern können und wollen. Dass das Ideal der Versammlungsdemokratie nur in sehr kleinen Verhältnissen verwirklicht werden kann, hat selbst Jean-Jacques Rousseau eingesehen, der für die direkte Demokratie wohl am überzeugendsten eintrat. Die Realität zeigt denn auch, dass die Gemeindeversammlung gerade in Gemeinden mit einer grossen Einwohnerzahl nur sehr unbefriedigend funktioniert. Wenn in einer Gemeinde mit 6000 Stimmberechtigten bloss 80 an der Gemeindeversammlung erscheinen, drängt sich die Frage auf, ob so gefasste Beschlüsse noch genügend demokratisch legitimiert sind. Zudem werden zahlreiche Stimmberechtigte von der Versammlung ausgeschlossen, sei dies, weil sie zu dieser Zeit arbeiten, sei dies, weil sie gebrechlich oder krank sind. Sodann besteht auch die Gefahr der Manipulation. Wegen der grossen Stimmabstinenz ist es für eine bestimmte Gruppe recht einfach, Stimmberechtigte zu mobilisieren, um eine Vorlage durchzubringen. Ferner ist die Wahl- und Abstimmungsfreiheit nicht immer gewährleistet.
Weil offen abgestimmt wird, unterliegen die Versammlungsteilnehmer aus gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Gründen allenfalls einem erheblichen Konformitätsdruck. Schliesslich besteht wegen des Informationsvorsprungs der Gemeindeexekutive ein sehr grosses Ungleichgewicht zwischen der Exekutive und der Gemeindeversammlung. Die ungenügende Information der Versammelten führt denn auch häufig zu Zufallsentscheiden. Zudem wird die Kontrolle über die Exekutive ausnehmend schwierig.
Im Kanton Zürich hat der Gesetzgeber zwar einige Korrekturen angebracht, indem etwa Wahlgeschäfte weitgehend an der Urne zu entscheiden sind. In der künftigen Kantonsverfassung ist vorgesehen, in jeder Gemeinde die wichtigsten Sachgeschäfte der Urnenabstimmung zu unterbreiten. Sodann soll ein Drittel der an der Gemeindeversammlung Anwesenden das Recht erhalten, eine nachträgliche Urnenabstimmung zu verlangen.
Vor- und Nachteile des Parlaments
Die Vorteile des Parlaments stechen bei einem Vergleich mit den Realitäten der Gemeindeversammlung sehr rasch hervor. Das Parlament ist wegen der Proporzwahl weit repräsentativer. Zwar wird auch der Mangel an Sachkunde des Parlamentes gegenüber der Exekutive und der Verwaltung beklagt. Indessen ist die Diskrepanz der Sachkunde weit geringer, was wiederum die Kontrolle des Parlaments über die Exekutive und Verwaltung erleichtert. In Gemeinden mit Gemeindeparlament können darüber hinaus zahlreiche Geschäfte vom Parlament entschieden werden, die in Gemeinden mit Gemeindeversammlung in die Zuständigkeit der Exekutive fallen. In den Gemeinden mit Parlament wird somit das Gewaltenteilungsprinzip gestärkt, die Macht der Exekutive erheblich verringert und die demokratische Legitimation der staatlichen Entscheide vergrössert. Die Stimmberechtigten ihrerseits fällen die ihnen zustehenden Entscheide an der Urne.
Selbstverständlich weist auch das parlamentarische System Nachteile auf und darf nicht idealisiert werden. Das Problem, genügend fähige Volksvertreterinnen und -vertreter zu finden, beschäftigt die Gemeinden mit Gemeindeparlament sehr stark. Sodann produziert ein Parlament durchaus auch fruchtlosen Verwaltungsaufwand, wenn es die Verwaltung mit der Beantwortung von Vorstössen beschäftigt, die in erster Linie mit Blick auf die eigene Wiederwahl eingereicht wurden. Insgesamt erweist sich die Gemeindeversammlung zudem als kostengünstiger.
Gemeindeversammlung oder -parlament?
Eine Abwägung der Vor- und Nachteile von Gemeindeversammlung und -parlament ist kein leichtes Unterfangen. Bei der Einführung der wirkungsorientierten Verwaltungsführung (New Public Management, NPM) wie auch unter dem Spardruck der öffentlichen Hand ist es wenig attraktiv, nach einer optimalen demokratischen Struktur und einer optimalen Mitwirkung der Stimmberechtigten zu suchen. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass gerade die Stadt Schlieren, welche ihre Verwaltungsführung nach dem NPM ausrichten will, für die Abschaffung des Parlaments eintritt. Wie angeführt, ist die Exekutive in einer Gemeinde mit Gemeindeversammlung weit mächtiger, weil sie schwieriger zu kontrollieren ist und weil sie über mehr Kompetenzen verfügt. Das NPM ist seinerseits auf eine starke Verwaltung angewiesen und will, dass die Verwaltung rasch und flexibel entscheidet. Die demokratischen Rechte (wie auch der Rechtsstaat) stehen dieser Grundlegung des NPM entgegen. In Anbetracht der erheblichen Nachteile der Gemeindeversammlung erweist sich das Parlament namentlich in grossen Gemeinden jedoch als die demokratischere Alternative. Aus diesem Grund will es gut überlegt sein, ob das Parlament abgeschafft und an dessen Stelle zur Gemeindeversammlung zurückgekehrt werden soll.
15.9.2004, NZZ
* Die Autorin ist Partnerin in einer Zürcher Anwaltskanzlei, praktiziert im Staats- und Verwaltungsrecht und ist Privatdozentin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich. Sie ist Mitglied des Zürcher Verfassungsrats, den sie im Amtsjahr 2002/2003 präsidierte.