Passt die über 200jährige Gemeindeversammlung noch zu unserer sich rasch verändernden Gemeinde? Wie können mehr Leute gewonnen werden, aktiv an der Gestaltung der Gemeinde mitzuwirken?
Ohne es ausdrücklich so zu beschliessen, haben wir uns längst dafür entschieden, vom Dorf zu einem urbanen Siedlungsschwerpunkt zu werden. Damit stellt sich auch die Frage nach den passenden demokratischen Strukturen.
Dieser Artikel gibt die Meinung des Autors, Ruedi Lais, Kantons- und Bezirksrat der SP Wallisellen wider. Die Sektion Wallisellen der SP, hat sich für Stimmfreigaben entschlossen, sie hat BefürworterInnen sowohl der Gemeindeversammlung als auch eines Parlaments.
Wallisellen ist eine äusserst dynamische Gemeinde. Ohne es ausdrücklich so zu beschliessen, haben wir uns längst dafür entschieden, vom Dorf zu einem urbanen Siedlungsschwerpunkt im Glattal zu werden. Wallisellens Silhouette wird heute von einem Kräne-Ballett geprägt – dieses wird schon bald von Hochhaus-Gruppen abgelöst. Mit den Riesenschritten innert weniger Jahre stellt sich auch die Frage nach den passenden demokratischen Strukturen.
Wallisellen – eine politisch vielfältige Gemeinde mit Potenzial
Wallisellen hat heute drei aktive Parteien (SVP, SP, FDP) und zwei aktive Parteienbündnisse (Forum pro Wallisellen und Die Mitte) sowie zwei Parteien (GLP, BDP), die sich neu formiert haben. Die Gemeindewahlen 2018 mit den vielen bereits publizierten Kandidaturen aus den Ortsparteien zeigen, dass Wallisellen zahlreiche aktive Bürgerinnen und Bürger zählt, welche mehr Einsatz leisten wollen als drei Mal jährlich passive Präsenz an der Gemeindeversammlung zu markieren. Unsere Gemeinde hat also ein sehr buntes Meinungsspektrum, das es für die Zukunft zu nutzen gilt. Aber nicht nur die politischen Parteien und Vereinigungen können sich so im Parlament einbringen, wie sie es heute an der Gemeindeversammlung tun. In vielen Parlamentsgemeinden sind auch parteilose, Vereins- und Quartierlisten vertreten.
Bei einem Gemeindeparlament mit 36 Mitgliedern, wie es für eine Gemeinde wie Wallisellen angemessen ist, erringt jede Liste, welche ca. 40 Wählerinnen und Wähler auf sich vereinigt, einen Sitz und kann mitreden. Statt wie heute nur 23 Behördenmitglieder (je 7 in Gemeinderat und Schulpflege, 5 in der RPK und 4 in der Sozialbehörde) können 53 Leute (7 im Stadtrat, 36 im Gemeindeparlament, 6 in der Schulpflege und 4 in der Sozialbehörde) mitwirken. Die 36 zusätzlichen Erfahrungen, Meinungen und Ideen bringen Wallisellen mit Sicherheit weiter. Hinzu kommt, dass im Gemeindeparlament - anders als in den Behörden - die Diskussionen öffentlich und die Argumente transparent sind. So können wir leicht überprüfen, ob die von uns Gewählten unsere Erwartungen erfüllen oder nicht.
Wenn eine Partei oder Gruppierung für das Parlament kandidiert, wird sie dies mit möglichst vielen Kandidatinnen und Kandidaten tun. Vor Wahlen schwärmen deren Vorstandsmitglieder denn auch aus, um Interessierte für ihre Liste und somit für ein Engagement in der Gemeinde zu gewinnen. Sie werden dann auch auf Neuzuzüger, Jungbürgerinnen oder frisch Eingebürgerte stossen. Was gibt es denn Besseres für die Integration, als wenn bereits aktive Einwohner bisher passive zum Mitwirken animieren?
Die Kreativität stärken und das Mitdenken fördern
Hauptzweck der Gemeindeversammlung ist das gemeinsame Abstimmen über Vorschläge von Gemeinderat und Schulpflege. Die meisten Diskussionsbeiträge stammen von Vorstandsmitgliedern von Parteien. Fast alle Rednerinnen und Redner halten sich an ein vorbereitetes Referat. Wer mehr als einmal das Wort verlangt, exponiert sich schon fast als Querulant. Es ist unvorstellbar, dass auf diese Weise eine Lösung oder nur schon eine Änderung einer Vorlage entsteht. Wer gerne seine eigenen Ideen einbringen will, ist auf einen persönlichen, guten Kontakt zur Behörde angewiesen. Fehlt dieser, so bleibt nur noch die Einzelinitiative. Diese muss sich aber auf Dinge beziehen, die in der Kompetenz der Versammlung oder der Urnenabstimmung liegen. Eine solche Initiative juristisch korrekt zu formulieren, ist äusserst schwierig, wie wir im Bezirksrat an zahlreichen Vor-Anfragen und späteren Rekursen feststellen müssen. Die meisten kleineren Anliegen können mit einer Initiative gar nicht vorgebracht werden, und wenn doch, dann verstreichen bis zur Diskussion und zum Entscheid schnell 1-2 Jahre. Wenn die Initiative sich auf die Gemeindeordnung, die „Walliseller Verfassung“ bezieht, findet sogar überhaupt keine Beratung statt, und der Entscheid fällt direkt an der Urne.
Ganz anders bei einem Gemeindeparlament! Seinen Mitgliedern und indirekt auch den von ihnen vertretenen Einwohnern stehen zahlreiche Instrumente zur Verfügung, um eine Idee oder Kritik rasch und unbürokratisch in die öffentliche Diskussion zu geben. Schon nach ein paar Wochen kann über kleinere Anliegen entschieden werden. Ist der Text fehlerhaft, erfährt man das nicht erst nach Monaten, sondern schon in der Fraktion oder spätestens an der übernächsten Parlamentssitzung und kann nachbessern. Mit der weiterhin bestehenden Einzelinitiative können auch wir „gewöhnlichen Bürger“ einen Vorschlag machen. Wenn 12 Mitglieder des Parlaments ihn unterstützen, wird er wie eine parlamentarische Initiative weiter bearbeitet und zum Entscheid gebracht. Wer zu wenig Unterstützung im Parlament vermutet, lanciert eine Volksinitiative, sammelt ein paar Hundert Unterschriften und erreicht so eine Volksabstimmung über sein Anliegen.
Den Jungen eine Chance geben
An der Gemeindeversammlung treffe ich hauptsächlich Leute meines Zirka-bald-AHV-Alters und meiner natürlichen Haarfarbe. Auch in den Behörden fehlen junge Leute weitestgehend. Das hat zwei leicht verständliche Gründe: Den meisten Jungen fehlt einerseits die Berufs-, Lebens- und Führungserfahrung, die es für ein Behördenamt braucht. Ausbildung „on the job“, wenn man über Millionen von Steuerfranken oder über schwierige menschliche Schicksale entscheiden muss, ist nicht für Jedermann eine erstrebenswerte Option. Andererseits können viele Junge bei allem Interesse und Engagement nicht garantieren, dass sie während einer ganzen oder gar mehreren Amtsperioden von vier Jahren in Wallisellen bleiben. Ein vorzeitiger Rücktritt mit Ersatzwahl ist weder für sie noch für ihre Parteien eine gute Lösung.
Solche interessierte und engagierte junge Stimmberechtigte können hingegen den Einstieg in die aktive Gemeindepolitik risikolos via Gemeindeparlament schaffen. Sie werden in den Teams der Fraktionen eingeführt und können nach und nach Verantwortung übernehmen, auch für weniger als vier Jahre. Wenn ihr Werdegang sie in eine andere Gemeinde verschlägt, übernimmt innert Monatsfrist eine Ersatzperson die Aufgabe. Im Vergleich zu einer Behördenwahl im Mehrheitswahlrecht ist auch die Nicht-Wahl in ein Parlament, das nach dem Proporz gewählt wird, viel leichter zu verkraften, denn sie ist selten persönlich gemeint. Meist hat es der Liste einfach nicht zu mehr Sitzen gereicht, und man kann später nachrücken oder es in vier Jahren wieder versuchen.
Über die alten Geleise hinausdenken - warum nicht ein Wahlkreis für Neu-Wallisellen?
Das Gesetz über die Politischen Rechte erlaubt es den Gemeinden, für die Wahlen ins Gemeindeparlament Wahlkreise zu bilden. Wallisellen hat südlich der Geleise grosse neue Quartiere. All die neuen Wallisellerinnen und Walliseller in den früheren Industriearealen „Zwicky“, „Richti“ und „Integra“ für unsere Gemeinde zu interessieren und sie am Gemeindeleben zu beteiligen, ist eine schwierige Aufgabe. Wer in Wallisellen weiss zum Beispiel schon, wo sich die Grenze zwischen Dübendorf und Wallisellen im „Zwicky“-Areal durchschlängelt? Für viele von uns Alt-Wallisellern ist das „Terra incognita“, was für Tausende von neuen Mitbürgern und ihre Kinder bald Heimat sein wird. Mit einem Wahlkreis für die neuen Quartiere erhielten sie eine garantierte Vertretung - bei einem 36er-Parlament ungefähr 6 Sitze - im Gemeindeparlament. Diese Vertreterinnen und Vertreter wären die natürlichen Ansprechpartner sowohl für ihre Quartiere als auch für uns „einheimischen“ Alt-Walliseller und unsere Behörden. Mit dem Neu-Walliseller Wahlkreis könnte unsere Gemeinde einmal mehr beweisen, wie innovativ und unkonventionell sie ist. Und wer weiss? – Vielleicht haben ja auch noch andere Quartiere wie Rieden das Bedürfnis nach einer eigenen Vertretung.
Gemeindepolitik – nicht nur für Profis
Heutzutage muss ein Mitglied des Gemeinderates oder der Schulpflege sein Pensum am Arbeitsplatz um 20-40% reduzieren, um die Behördenarbeit erledigen zu können. Das können oder wollen nicht viele Berufstätige oder Leute mit Betreuungspflichten tun. Selbst wenn die Behördenarbeit wie in Wallisellen anständig entlohnt wird, ist das Risiko einer Abwahl oder eines beruflichen Abstiegs infolge der Teilzeitarbeit für sie zu hoch. Ganz anders im Gemeindeparlament! Hier bleibt die Beschäftigung mit der Gemeinde ein freiwilliges Engagement neben dem Beruf und den Familienpflichten, für das man gerne 1-2 Abende pro Monat aufbringt.
Die Demokratie pflegen
Eine traurige historische Binsenwahrheit sagt: „Wer seine demokratischen Rechte nicht nutzt, wird sie früher oder später verlieren.“ An der Gemeindeversammlung nehmen meist 100-200 von über 9000 Stimmberechtigten teil. Selbst wenn sich ein spannender Entscheid abzeichnet, beträgt die Abstinenz weit über 95%. Für diese grosse Mehrheit ist die Gemeinde offenbar keine demokratische Einheit, die von allen genutzt und gepflegt werden muss, sondern primär eine Dienstleisterin. Sie erwartet schlicht einen guten Service Public und eine gut funktionierende Verwaltung zu tiefen Preisen. Die Steuerrechnung oder der pünktliche Ortsbus sind für sie tausendmal wichtiger und interessanter als das Recht, drei Mal pro Jahr einige Stunden ihrer Freizeit für das Funktionieren der Gemeinde-Demokratie einzusetzen. Das System „Gemeindeversammlung“ schliesst aber auch sehr viel Stimmberechtigte schlicht dadurch aus, dass sie an diesen Abenden arbeiten oder Angehörige betreuen müssen oder auch krank sind.
Ganz anders bei einem Gemeindeparlament. Seine Mitglieder sind dauerhaft interessiert und informieren sich regelmässig für alles, was für das Gedeihen von Wallisellen politisch wichtig ist. Sie sind unsere Ansprechpartner und sorgen dafür, dass die unterschiedlichsten politischen Kräfte miteinander einen konstruktiven Dialog pflegen.
Kompetentere Aufsicht
Sowohl das alte (§ 41) als auch das neue Gemeindegesetz 2018 (§ 15) enthalten einen eigentümlichen Auftrag für die Gemeindeversammlung. Sie soll nämlich „die politische Kontrolle über Behörden, Verwaltung und die weiteren Träger öffentlicher Aufgaben“ ausüben, wobei unter diesen weiteren Trägern Zweckverbände, gemeindeeigene AG oder privatrechtliche Konstrukte wie Vereine zu verstehen sind. Selbstverständlich kann eine Gemeindeversammlung diese Aufgabe nicht umfassend erfüllen. Sie muss sich auf die Abnahme von Rechnungen und Berichten beschränken. Die Aufsicht über einen Betrieb mit 150 Mio. Umsatz und 250 Mio. Bilanzsumme, plus die ausgelagerten Aufgaben in der gleichen Grössenordnung kann ja unmöglich von einer drei Mal pro Jahr zusammentretenden Versammlung von Stimmberechtigten ausgeübt werden. Dafür braucht es Leute, die mehr Akteneinsicht haben dürfen und vor allem mehr Zeit investieren können. Heute sind das innerhalb der Gemeinde nur die fünf RPK-Mitglieder. Deren Zuständigkeit beschränkt sich aber auf jenen Teil der Gemeindefinanzen, wo die Entscheide an der Gemeindeversammlung oder an der Urne fallen, und sie können uns nur eine Abstimmungsempfehlung geben. Das Gemeindeparlament kann demgegenüber dank seinem Aktenstudium und – womöglich noch wichtiger – den persönlichen Kontakten zu Behörden und Verwaltung – die Aufsicht in unser aller Auftrag viel kompetenter ausführen und wo nötig auch korrigierend einschreiten, bevor der Weg zu einer oberen, auswärtigen Instanz wie dem Bezirksrat, der kantonalen Verwaltung oder den Gerichten nötig wird.
…und die Kosten?
Die heutige Art der Legislative in der Form der Gemeindeversammlung mit Urnenabstimmungen, RPK und dem Wahlbüro kostet laut Jahresrechnung 2015 knapp 300‘000 Fr. pro Jahr. Die entsprechenden Kosen in den als Einheitsgemeinden mit Wallisellen vergleichbaren Nachbargemeinden Kloten und Opfikon betrugen 2016 laut deren Jahresrechnungen 320‘000 Fr., resp. 360‘000 Fr. Wallisellen entschädigt seine Behördenmitglieder für ihre anspruchsvolle Arbeit weniger „schmürzelig“ als andere Gemeinden. So erhalten der Gemeinderat inkl. Sozialleistungen ca. 550‘000 Fr. pro Jahr, die Schulpflege rund 300‘000 Fr. Die allfälligen Mehrkosten für das Walliseller Gemeindeparlament lägen jedenfalls in einem sehr überschaubaren Rahmen. Ausserdem fallen Kosten für Wahlen jener Behörden weg, die neu vom Parlament vorgenommen würden. Das wären zwingend die RPK und eventuell auch die Sozialbehörde.
Sein oder Nichtsein?
Ich bin ein Ur-Walliseller, der in 44 Jahren höchstens ein halbes Dutzend Gemeindeversammlungen verpasst hat. Ich würde die Versammlung sicher ein bisschen vermissen. Weniger die Redezeitbeschränkungen oder die in letzter Zeit zahlreichen Rekurse hinterher. Vielleicht mehr so, wie den alten Bahnhof oder den Schlittelweg oder den Duft unserer bald wegziehenden Schoggifabrik. Wallisellen wird nie einfach Wallisellen „bleiben“, denn unsere Region entwickelt sich viel zu dynamisch, als dass eine Gemeinde stehenbleiben könnte. Die Frage nach einem Parlament ist die Frage danach, mit welchen Strukturen Wallisellen besser Schritt halten und eine auch politisch lebendige, kreative Gemeinde sein kann. Das kann es mit dem neuen Gemeindeparlament oder mit der alten Gemeindeversammlung. Unsere Gemeinde kann es aber nicht mehr ohne das Engagement von mehr und vor allem mehr jungen Leuten.
Ein aktives, konstruktives Gemeindeparlament ist eine Chance für Wallisellen und passt zu unserer zukunftsgläubigen, offenen und lebendigen Gemeinde.
erschien im Anzeiger von Wallisellen vom 11.1.2018 in gekürzter Form