Seit mehreren Monaten steht die Sozialhilfe im Kreuzfeuer der Kritik, sei es wegen des Kostenwachstums, sei es aufgrund einzelner Missbrauchsfälle.
Diese beiden Elemente haben ausgereicht, um in einer breiten Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass das System der Sozialhilfe oder der sozialen Sicherheit als Ganzes hinterfragt werden müsse. Diese Angriffe widerspiegeln ein politisches Umfeld, in dessen Hintergrund ganz Grundlegendes auf dem Spiel steht.
Einseitige Kampagne
Missbrauch von Leistungen ist etwas, das es immer schon gegeben hat und immer geben wird. Die Quote unrechtmässig bezogener Sozialhilfeleistungen liegt zuverlässig und unverändert bei unter 3 Prozent. Was sich geändert hat, ist, dass man durch das Skandalisieren von Einzelfällen ein Klima zu schüren versucht, in dem sich Sozialabbau auch gegen die 97% Ehrlichen durchsetzen lässt. Zwei Zahlen verdeutlichen das Missverhältnis dieser Stossrichtung. Ein Sozialdetektiv bringt dem Staat null ein, er ist knapp kostendeckend, kostet etwa so viel, wie er durch das Aufdecken von Fällen einsparen hilft. Ein Steuerbeamter jedoch erwirtschaftet einen Gewinnsaldo für den Staat von 2‘000‘000 (2 Mio.). Wo also findet hier mehr Missbrauch statt? Und warum hören wir von bürgerlicher Seite nie die Forderung nach mehr Steuerbeamten?
Abbau bei IV und ALV
In den vergangenen zehn Jahren haben die Revisionen in den vorgelagerten Systemen wie der IV oder dem Arbeitslosenversicherungsgesetz dazu geführt, dass sowohl die Zahl der SozialhilfebezügerInnen als auch die Kosten anwuchsen. Eine Entwicklung also, die auf eine Schwächung des Versicherungsprinzips hinausläuft. Trotz dieser zusätzlichen Belastung sind die Aufwendungen im Sozialhilfebereich bescheiden und für unsere Finanzen tragbar geblieben. Seit 2000 hat die Zahl der Sozialfälle zwar zugenommen, wegen des Bevölkerungswachstums und der Deckungs-lücken, die durch verschiedene Gesetzesrevisionen entstanden sind. Die Sozialhilfe kostet ca. 2.3 Mia. Pro Jahr, also etwa ein MWST Prozent.
Verteidigung für unser Erfolgsmodell
«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen», so heisst es in der Präambel unserer Bundesverfassung von 1999. Die Schweiz hat ihr Erfolgsmodell ganz wesentlich auf zwei Elementen aufgebaut: einem kunstvollen Gleichgewicht zwischen einer starken Wirtschaft und sozialem Frieden. Entwickeln konnten sich diese namentlich dank der Errichtung eines soliden Systems der sozialen Stabilität, das der Gesellschaft Wohlstand und den BürgerInnen Entfaltungsmöglichkeiten bescherte. Wer in der Marktwirtschaft Erfolg haben will, muss manchmal Risiken eingehen. Die Möglichkeit, dass Einzelne dabei Scheitern ist ein Teil des Systems. Die Mechanismen, welche ihre Rückkehr in den Kreislauf ermöglichen, ebenfalls. Ohne das soziale Korrektiv wäre unser Modell nicht mehr vollständig.
Kopie der Republikaner in den USA
Was in der Schweiz seit ein paar Jahren abläuft, ist eine ziemlich exakte Kopie der unsozialen Politik der US Republikaner bzw. ihrer extremen internen Sekte, der sog. Tea Party. Genau wie dort reiten gewisse rechtsbürgerliche Kreise in der Schweiz masslose und zynische Attacken. Sie gehen auf die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft los: die Kinder, kinderreiche Familien oder Menschen mit tiefem Ausbildungsniveau. In ihrem Programm stehen Forderungen, welche nur die Interessen der reichsten 2 Prozent befördern: Steuersenkungen, Sozialabbau und ein Wegfegen der Schutzbestimmungen für Konsumenten- und Umweltschutz. Die Kampagnen gegen Einzelfälle sind Ablenkungsmanöver. Schliesslich geht es darum, die Wählerschaft dazu zu bewegen, massenhaft gegen ihre eigenen Interessen zu stimmen.
Welche Zukunft wollen wir?
Dass man 3 schlecht bezahlte Jobs hat und sich trotzdem verschulden muss, um die Familie durchzubringen, das ist das US Modell, das uns droht. Wir täten gut daran, stattdessen an unserem festzuhalten. Es ist Pflicht unseres Landes, all jenen eine angemessene Unterstützung für die soziale und berufliche Integration zukommen zu lassen, die vorübergehend oder dauerhaft von Armut betroffen sind. Der SP ist das Schicksal dieser Menschen ein vordringliches Anliegen, sie sollen ein Leben in Würde führen können, frei von beklemmenden Existenzängsten. Ginge die Politik dazu über, sie fallen zu lassen, könnte sich die Schweiz auf die unweigerlichen Folgen von fehlender Bildung und Armut gefasst machen, auf höhere Kriminalitätsraten und einen brüchigen sozialen Frieden.
Dieser Artikel erschien im Anzeiger von Wallisellen vom 24.9.2015