SP: Wirtschaftlichkeit im Sozialstaat

Wenn von Sozialhilfe die Rede ist, dann meist von Kostenexplosion. Von Gemeinden und SteuerzahlerInnen, die zur Kasse gebeten werden.Von ökonomischer Untragbarkeit und missbräuchlicher Verwendung.

Das tönt nach wirtschaftlichem Sachverstand: „wir können es uns nicht mehr leisten.“ Aber die Kosten sind nur die eine Seite der Buchhaltung. Solange man nicht auch über den Nutzen spricht, betreibt man statt Oekonomie nur Polemik. Zwar weist das Bundesamt für Statistik ein Wachstum der totalen Ausgaben für Sozialhilfe zwischen 2002 und 2012 aus, in Prozenten des Bruttoinlandproduktes stiegen sie in diesen zehn Jahren lediglich von 0,6% auf 0,7%. Also weder Explosion noch untragbar. Vor allem wenn man bedenkt, wie viele Personen durch Sparmassnahmen in Firmen sowie bei der Arbeitslosen- und Invalidenversicherung an die Sozialhilfe ausgelagert wurden, kostet das System relativ wenig.

Und was ist mit dem Nutzen?

Der britische Oekonom John Maynard Keynes hat unter anderem die Konsumnachfrage einer Volkswirtschaft eingehend untersucht. Staaten, welche einkommenslose Personen nicht unterstützen, haben eine negative Kettenreaktion zu gewärtigen. Diese fallen als Konsumenten aus, die Umsätze sinken, ebenso die Gewinne und die Zahl der Arbeitsplätze.

Eine Spirale nach unten kommt in Gang. Zudem steigt die Kriminalität und in gewissen Quartieren breitet sich ein unsicheres Klima aus, so dass bald niemand mehr dort investiert. Der britische Oekonom Keynes befasste sich u.a. mit der Erforschung der Konsumnachfrage und der antizyklischen Wirtschaftspolitik.

Der britische Oekonom Keynes befasste sich u.a. mit der Erforschung der Konsumnachfrage und der antizyklischen Wirtschaftspolitik.

Mit der Stützung der Konsumnachfrage werden also nicht nur Menschen mit den Mitteln versorgt, welche sie zum Kauf des Allernötigsten befähigen. Diese Mittel zirkulieren auch und beleben zu 100 Prozent den Konsum. Für den Grossteil der SozialhilfebezügerInnen ermöglicht die Unterstützung ausserdem ihre Krise zu überwinden und (wieder) Arbeit zu finden. Langfristig werden dadurch Folgekosten vermieden wie die Schädigung der Gesundheit oder die Beeinträchtigung der Entwicklungschancen derKinder. Nicht zu vernachlässigen ist die psychologische Wirkung. Denn Menschen, die den Lebensmut verlieren sind selten produktiv.

Sicherheit

Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihre traditionell sichere Gesellschaft. Dass auch eine BundesrätIn ohne Bodyguards einkaufen, Tram- oder Velofahren kann. Das liegt nicht nur an der tiefen Kriminalitätsrate, sondern ebenso am Sicherheits- und Gerechtigkeitsgefühl sowie dem Vertrauen in die Mitmenschen und die staatlichen Institutionen. Nicht ohne Grund haben die sozialstaatlich verfassten Länder wie Schweden, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Luxemburg und Neuseeland nicht nur einen hohen Lebensqualitätsindex, sondern gehören Jahr für Jahr zu den zehn produktivsten Ländern weltweit. In Ländern mit besonders tiefer Staatsquote und kaum Sozialleistungen wie Mexiko, Rumänien oder Madagaskar ist das Investitionsklima hingegen nicht gerade rosig. Und in den USA ist es doch so, dass der Staat das, was er bei der Sozialhilfe spart, doppelt und dreifach für den Bau und Betrieb von Gefängnissen ausgibt.

Arbeit soll sich lohnen?

Dieser Slogan ist zu unterstützen. Regeln, die zu falschen Anreizen führen, soll man ändern. Wenn Sozialhilfe sich mehr lohnt als Arbeit, bedeutet dies zweierlei. Erstens, dass Arbeit zu schlecht bezahlt wird und zweitens, dass der Übergang schlecht reguliert ist. Es lässt sich auch im Falle von tiefen Löhnen sicherstellen, dass jene, die arbeiten, netto mehr haben, als jene, die es nicht tun. Besser wäre es allerdings, wenn man für 100% Arbeit ein Gehalt bekommt, von dem sich das Leben bestreiten lässt. Und vor allem darf Sozialhilfe nicht so tief sein, dass sich Kriminalität lohnt. Das wäre der Anreiz mit den grössten Kostenfolgen für die Allgemeinheit.

Eine andere Frage, ist jene, der Sanktionen. Bei schweren Verstössen sollen die Bezüge gekürzt werden. Das leuchtet ein. Ist aber schon die normale Sozialhilfe nicht mehr existenzsichernd, kann man davon ja gar keine namhaften Abzüge mehr vornehmen. Demzufolge muss also, wer wirksame Sanktionen fordert, logischerweise einem anständigen Basisniveau bei der Bemessung der Sozialhilfe zustimmen.

Das unterste Auffangnetz

Das Modell der Sozialhilfe ist ein ökonomischer Erfolg. Es gibt keinen Grund, dieses nützliche und wirksame Instrument aus der Hand zu geben. Natürlich bringt es die Zeit mit sich, dass immer wieder Anpassungen nötig werden, wenn eine Regulierung sich überholt hat. Und es ist auch sinnvoll, die genauen Wirkungen von Massnahmen zu erforschen. Die Sozialhilfe ist das unterste Auffangnetz unseres Staates, das für Gesellschaft und Oekonomie unverzichtbar ist. Reformen sind unvermeidbar, aber mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Sozialhilfe – und nicht den sozialen Kahlschlag - zu optimieren. 

Dieser Artikel erschien am 15.10.2015 im Anzeiger von Wallisellen

 

Glänzende Korrektur

Unter dem Titel wenig glänzend verfasste Georges A. Pulver eine Replik, in der er mit detaillierten Zahen, ein Wachstum der Ausgaben für Sozialhilfe belegte. Worauf ich mich mit einer Replik auf die Replik bedankte:

Nach erneutem Wühlen in den Zahlen des Bundesamtes für Statistik wurde mir klar, dass die detaillierten Zahlen von G. Pulver richtig und meine beiden Prozentsätze falsch sind. Danke vielmals für die Korrektur!

Die korrigierten Zahlen zeigen ein Wachstum der Ausgaben für Sozialhilfe, was gemäss den Fakten in meinem Artikel zu erwarten ist. Andererseits zeigen sie, dass die Sozialhilfe im Jahr 2012 nur 0.38% des Bruttoinlandproduktes kostete und nicht fast doppelt so viel, wie ich schrieb. Das bestärkt meine Hauptaussage: die Sozialhilfe ist ein ökonomischer Erfolg, denn sie verhindert kostengünstig grosse Schäden an Wirtschaft und Gesellschaft.